Das Genie schafft das Außergewöhnliche, die Corporate Structure bringt es in die dauerhafte materielle Existenz.
[tweetthis]“Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!“ Helmut Schmidt, deutscher Bundeskanzler von 1974-1982[/tweetthis]
Im Jahre 2013 erschien eine Dokumentation über das bombastischste Filmprojekt aller Zeiten, das je versucht wurde und dann an den Klippen der damaligen Vorstellungen zerschellte: Das DUNE-Projekt von Alejandro Jodorowsky.
Das Projekt wurde nahtlos übernommen von Regisseur David Lynch. Der Film allerdings, der 1984 veröffentlicht wurde, hat nur noch sehr wenig gemein mit dem ursprünglichen Konzept, das in jeder Hinsicht Grenzen des Business sprengte.
Von der ursprünglichen Besetzung blieb keine einzige Person. Die ursprünglichen Designs sind kaum noch erkennbar.
Am 28.01.2017 hatte ich das Glück, dass die Dokumentation für wenige Stunden auf youtube verfügbar war, in Vollbild-Größe, ohne erhöhte Laufgeschwindigkeit, ohne matschige Musik.
Es ist eine kleine bescheidene Doku, hauptsächlich Talking Heads, mit ein paar witzigen bescheidenen Animationen und vor allem Aufnahmen des ursprünglichen Storyboards. (Storyboard: Eine Darstellung des Films als Erzählung, meistens ähnlich einem Comic-Buch)
Eine echte Vision
Die Kraft der ursprünglichen Vision von Alejandro Jodorowsky haute mich von den Socken. Als Film-Nerd habe ich vieles gesehen, aber dies war wirklich etwas ganz Neues. Jodorowsky hatte etwas, das den Namen „Vision“ wahrhaftig verdient.
Auch die Kommentare der Leser von „moviepilot“ zur Dokumentation von Frank Pavich sind selten schön geschrieben, begeistert und gefühlvoll.
Mir war klar: Darüber muss ich auch etwas schreiben.
Für mich wird an diesem Projekt vieles deutlich – vor allem die jeweiligen Stärken und Schwächen des einzelnen Genies einerseits und einer Struktur eines Großunternehmens andererseits. Ich erkenne an diesem Beispiel auch die unaufhaltsame Kraft wirklich guter Ideen.
Jodorowskys Anspruch war kein geringerer, als die Welt zu verändern. Der Film sollte einen Entwicklungssprung im kollektiven menschlichen Bewusstsein auslösen.
Ich behaupte, wäre der Film erschienen wie geplant, hätte er diesen Entwicklungssprung tatsächlich ausgelöst.
Was am Ende herauskam, war ein verwässertes, ganz interessantes aber insgesamt konfuses Werk, nachdem Jodorowsky von der Produktionsfirma über Bord geworfen worden war.
Auf welchem Wege gelangte Jodorowsky nun an diesen Punkt?
Schon immer etwas eigen: Das Filmschaffen des Alejandro Jodorowsky
Seit Beginn seiner Karriere machte Jodorowsky sein eigenes Ding nach seinen eigenen Regeln.
[tweetthis]“Andere Regisseure machen Filme mit den Augen, ich mit den Eiern.“ Alejandro Jodorowsky[/tweetthis]
Fando y Lis
Ein bizarres kleines Werk in Schwarzweiß, in Mexico gedreht ohne Genehmigung der offiziellen Stellen, die damals erforderlich gewesen wäre.
Der Film erschien 1968 und löste einen Skandal aus. Er wurde schließlich in Mexico verboten und 1970 von einer amerikanischen Produktionsfirma gekauft.
Bei den Filmfestspielen von Acapulco musste Jodorowsky sogar vor einem Lynchmob flüchten. Der Legende nach floh er in einem Fußraum der Limousine von Roman Polanski, dem Kontroversen ja nicht fremd sind.
Sogar das Hauptdarsteller-Paar beschimpfte den Regisseur öffentlich.
Jodorowsky sagte, er habe den Film mit dem Unterbewusstsein gedreht und es sei ihm von Anfang an egal gewesen, wie das Publikum reagieren würde.
Heute (Stand: Januar 2017) hat der Film einen kleinen Kultstatus und ein paar Künstler nennen ihn als Einflussquelle.
El Topo
El Topo erschien zuerst auf meinem Radar, weil Dan O’Bannon ihn in einer Dokumentation zum ersten ALIEN –Film erwähnt.
Auf den ersten Blick ist EL TOPO ein Western, auf den zweiten Blick eine Allegorie auf Macht, vermeintliche Sicherheit, erstarrte und flexible Strategien.
Sicherlich lässt sich darin noch einiges mehr sehen.
EL TOPO war einer der ersten „Midnight Movies“, die fast ausschließlich in Spätvorstellungen liefen.
Allein die Tatsache, dass der Sohn des Filmhelden, in der Handlung 7 Jahre alt, einen großen Teil des Films über nackt ist, würde die Produktion heutzutage unmöglich machen (Stand: Januar 2017). Auch dass der 7jährige Junge aufgefordert wird, einen Mann zu erschießen und dies auch tut, passt nicht in unsere üblichen Vorstellungen.
Ansonsten sind die Erzählstruktur und der sehr sparsam eingesetzte Dialog unüblich und ungewöhnlich für das moderne Publikum.
Persönlich fand ich den Film gewaltig und erstaunlich, in der zweiten Hälfte anstrengend und schwer verständlich. Jodorowsky will wohl auch gar nicht verstanden werden, sondern gefühlt.
Emotional empfinde ich den Film als eine berührende, aufwühlende, empörende Tour de Force.
La Montana Sacra
Der Heilige Berg ist ein einzigartiges Meisterwerk.
Die Geschichte erinnert mich teilweise an LIFE OF BRIAN auf einer extrem überhöhten Dosis Meskalin. Auch hier geht es um einen Charakter, der unfreiwillig zum Messias-Symbol wird.
Mit diesem Film erschien Jodorowsky deutlich auf der Landkarte der Filmemacher.
Bildgewaltig wie Fellini, aber schärfer und konkreter, multidimensional wie Stanley Kubrick, handwerklich herausragend wie Steven Spielberg, hypnotisch fesselnd wie Ridley Scott.
Der Film funktioniert auf der Ebene der Geschichte ebenso wie auf vielschichtigen Bildern und Symbolen.
Diese Vielschichtigkeit bezeichnet der Liverpooler Meister-Filmanalyst Rob Ager als „Kubrick’s Cube“, in Anlehnung an den Rubik’s Cube Würfel und an die meisterhafte multidimensionale Erzählkunst von Stanley Kubrick.
Das Werk erschien 1973 und beeindruckte Zuschauer wie Kritik.
No quiero dinero, ho ho ho: Prophets over Profit
Die Angaben zu den Einnahmen und Gewinnen von Jodorowskys Filmen sind etwas unklar. Die Internet Movie Database bietet ein paar Zahlen an, von denen ich aber nicht sicher bin, ob sie vollständig sind. Die dort angegebenen Umsätze sind bemitleidenswert.
Einen fetten Reibach hat er sicherlich nie gemacht. Es sieht aus, als hätte Jodorowsky mit seinen späteren Comics und Büchern mehr Geld verdient als mit seinen Filmen.
Jodorowsky managte seine Projekte mit wahrhaftiger Vision. Er arbeitete nicht für Geld, sondern für den kreativen Ausdruck.
Das Herausragende wird nicht mit Gewinnabsicht geschaffen, sondern weil Menschen ein brennendes Bedürfnis haben, etwas umzusetzen.
Das führt naturgemäß zu vielen Fehlschlägen und zu viel Scheitern. Auch das brauchen wir, um voran zu kommen.
[tweetthis]“Propheten kommen vor Profit!“ Alejandro Jodorowsky, Kult-Filmemacher[/tweetthis]
DUNE: Das Mammutprojekt
Der Erfolg von MONTANA SACRA führte dazu, dass ein Produzent auf Jodorowsky zukam und ihm zusagte, jedes gewünschte Filmprojekt mit ihm zu realisieren. Er fragte Jodorowsky, welcher Stoff ihm vorschwebte.
Spontan antwortete Jodorowsky: „Dune! Der Wüstenplanet!“
Nach eigener Aussage hatte er das Buch nie gelesen und wusste auch nichts darüber, aber ein Freund hatte ihm gesagt, es sei ein großartiges Buch und kommerziell sehr erfolgreich.
Der Produzent stimmte zu. Jetzt musste Jodorowsky wohl oder übel tätig werden.
Spirituelle Krieger
Jodorowsky hatte das Verständnis, dass alle, die am Filmprojekt mitwirkten, spirituelle Krieger sein mussten. Sie mussten eine wahrhaftige Vision fühlen und transportieren können.
Als ersten holte er den Comic-Zeichner Jean Giraud, genannt Moebius, an Bord. Dieser zeichnete die Storyboards mit Höchstgeschwindigkeit.
Das Design des Hauses Harkonnen wurde von Hans Rudi Giger entworfen, der mit seinem NECRONOMICON Aufsehen erregt hatte und der später die Grundlagen für die ALIEN-Monster lieferte.
Die Raumschiffe zeichnete Chris Foss, dessen Schicksal es auch später sein sollte, wunderschöne Designs zu entwerfen, die dann in den zugedachten Filmen nicht verwendet wurden, darunter Richard Donner’s SUPERMAN. Seine Bilder schafften es auf mehrere Sci-Fi-Bücher; begonnen hatte seine Karriere mit Illustrationen für das Buch „Joy of Sex“.
Ein Besuch bei Douglas Trumbull, seinerzeit DER Spezialist für Filmeffekte, verlief eher ernüchternd. Zur großen Bestürzung von Moebius sagte Jodorowsky zu Trumbull nach einem kurzen Gespräch, „wir werden nicht zusammen arbeiten“. Nach seiner Meinung war Trumbull zu technisch orientiert und verstand den tieferen Sinn des Projektes nicht. Er mag der beste technische Experte gewesen sein, aber er war kein spiritueller Krieger.
Als Effekt-Experte entschied er sich schließlich für Dan O’Bannon, der zusammen mit John Carpenter den eher albernen DARK STAR inszeniert hatte, dessen Spezialeffekte nicht sehr spezial aussehen. Aber O’Bannons Spirit gefiel Jodorowsky. Er instruierte O’Bannon, all seine Habseligkeiten zu verkaufen und nach Paris zu ziehen, was dieser auch tat.
Inspirierende Führung
Das damalige Team berichtet, Jodorowsky habe morgens alle versammelt und eine Art Motivationsrede gehalten.
Immer wieder nahm er sich einzelne Mitarbeiter vor, füllte sie mit Ideen, ließ sie dann aber frei arbeiten.
Jodorowsky selbst sagte, er wolle seine Mitarbeiter mit ihrem eigenen inneren Genius in Verbindung bringen.
Für mich klingt das nach sehr gelungener Führung.
Die allererste Garde der Darsteller
In der Rolle des Baron Harkonnen sah Jodorowsky niemand Geringeren als Orson Welles. Erst als er Welles versprach, seinen Lieblingskoch für das Catering anzuheuern, sagte dieser zu.
Und wer könnte besser die Rolle des Galaktischen Imperators spielen als der surrealistische Maler Salvador Dalí? Na klar! Jodorowsky schrieb seine Anfrage auf eine Tarot-Karte des „Gehängten“ und bekam so eine Audienz beim Meister. Dalí stellte im Laufe der Produktionsentwicklung immer ausuferndere Forderungen, blieb aber an Bord.
KUNG FU Star David Carradine wurde von Jodorowsky für die Rolle von Leto Atreides angeheuert, nachdem Carradine mehrere Monatsdosierungen von Jodorowskys Vitamin E in einem Zug austrank.
Der deutsche Geheimtip Udo Kier sagte zu, die Rolle des Piter de Vries zu übernehmen.
Für die Rolle des Feyd Rautha gab Mick Jagger immerhin ein mündliches „Yes.“
Jodorowskys Sohn Brontis, der bereits in EL TOPO den kleinen Jungen gespielt hatte, wurde bei einem harten, unerbittlichen Kampfkunst-Meister in die Lehre geschickt und wurde in zahlreichen geistigen Disziplinen unterwiesen, damit er die Rolle des starken und brillanten Paul Atreides verkörpern konnte.
Vorgesehen waren außerdem Amanda Lear als Prinzessin Irulan und Gloria Swanson als Jessica.
Musik vom Feinsten
Jodorowsky spürte die Band PINK FLOYD beim Mittagessen auf. Die Gruppe ignorierte ihn zunächst, bis er anfing, sie laut anzukeifen. Nach einer Weile der Diskussion stimmten PINK FLOYD zu, einen Teil der Musik zu schreiben.
Außerdem vorgesehen waren TANGERINE DREAM und die experimentelle Band MAGMA.
Die Tatsache, dass Jodorowsky eine derartige Vielzahl herausragender Künstler an Bord bringen konnte, spricht auch für seine visionäre Kraft.
Der Film im Buch macht vielen Angst
Aus dem Skript und den Storyboards entstand ein dickes Buch in der Art eines großen Kunstbandes,
Hiermit wurde das Konzept den verschiedenen Filmstudios präsentiert.
Monatelange inspirierte, ernsthafte Arbeit war in das Projekt geflossen.
Die Reaktionen waren einhellig positiv und bewundernd: Die Geschichte sei stimmig, der Film hervorragend konstruiert, die Designs wundervoll, die Idee großartig.
Dann kamen die Ängste zum Vorschein. Ein Film von geplanten 10 bis 20 Stunden Länge, wie ließe sich das kommerziell vermarkten? Die illustren Darsteller, sehr exzentrische Charaktere in großer Zahl, würde es gelingen, sie zu disziplinieren? Die Filmsequenzen, die auf dem Papier wundervoll aussehen, würde man sie auf Film bringen können?
Während Jodorowsky kompromisslos seiner Vision folgte und das Projekt immer weiter vergrößerte, wurden die Geldgeber immer nervöser und drängten auf Beschränkungen.
Jodorowsky dachte aber überhaupt nicht daran, seinen überbordenden Geist irgendwie zu zügeln.
DUNE war so vorausschauend, so gewaltig, dass es einfach nicht in den Rahmen des damaligen Hollywood passte.
Captain über Bord
Schließlich nahm Produzentin Raffaela de Laurentiis das Ruder in die Hand, schubste Jodorowsky über Bord, feuerte das gesamte Team und machte aus der großen Vision ein kommerzielles Filmprojekt.
Für eine ganze Weile arbeitete Regisseur Ridley Scott an dem Projekt. Als es nach langer Arbeit einfach nicht weiter ging und einer von Scotts Brüdern verstarb, stürzte er sich schließlich in die Arbeit an BLADE RUNNER.
In der Nachgeschichte heißt es, Jodorowsky lebte nach dem Scheitern des Filmprojektes in einer großen WG, „bis er alle wahnsinnig machte“ (Filmzitat).
Das Endergebnis: Gut
Als Jodorowsky hörte, dass David Lynch die Regie übernehmen sollte, freute er sich zunächst, weil Lynch nach seiner eigenen Meinung ein großer Künstler ist. Er sagte: „Wenn überhaupt jemand das Projekt hinkriegt, dann David Lynch!“
Als er das Ergebnis sah, fand er ein Wort: „Schrecklich!“
Ich finde das übertrieben. Ich halte den Kinofilm von 1984 für sehr interessant, sehr eigen, gut gemacht. Einige der Spezialeffekte sehen lächerlich aus, aber das tut dem Gesamtkunstwerk keinen Abbruch.
Ja, die Geschichte ist konfus, aber auch David Lynch ist eher ein Regisseur zum Fühlen als zum Verstehen.
Die Sets und Kostüme sind originell und erinnernswert. Die schauspielerischen Leistungen finde ich auch zwischen sehr gut und ausgezeichnet. Die Regie ist, wie für David Lynch typisch, durchdringend.
Die Idee, Feyd Rautha von einem berühmten Musiker darstellen zu lassen, findet ihr Echo in der Besetzung von Sting in dieser Rolle, der den Charakter wunderbar bösartig und fies herüberbringt.
Nachhall
Interessant fand ich, dass anscheinend 30 Jahre lang nicht über das ursprüngliche DUNE-Projekt gesprochen wurde, obwohl sein Einfluss auf die Filmwelt enorm war.
Der Abdruck, den das ursprüngliche DUNE-Konzept in der Filmwelt hinterlassen hat, ist unübersehbar.
Von den Projekt-Büchern, von denen jedes große Filmstudio mindestens 2 Exemplare erhielt, gelten alle bis auf 2 Stück als verschollen. Zweifellos wurden die Bücher aber von einigen späteren Key Playern eingesehen.
Bereits der 1976er STAR WARS ist erkennbar von einigen der Weltraum-Szenen beeinflusst.
Ridley Scotts Storyboards für Kult-Epos BLADE RUNNER sehen auffallend ähnlich aus wie die Storyboards von Moebius für DUNE. (Dies könnte in der Natur von Storyboards liegen; da fehlt mir die Expertise.)
Die Schlüsselfiguren des DUNE-Projektes trafen sich wieder beim ALIEN-Film: Dan O’Bannon, Hans Rudi Giger und Ridley Scott. Obwohl O’Bannon lange für DUNE in Paris wohnte und monatelang täglich mit Jodorowsky arbeitete, erwähnt er die Begegnung in der ALIEN-Dokumentation nur am Rande. Ob Giger ihn erwähnt, erinnere ich gerade nicht genau, jedenfalls nicht ausführlich.
Vielleicht waren die Enttäuschung und die Bitterkeit über das Scheitern des Projektes zu groß.
The Test of Time: Der Visions-Filter
Vieles, was mit dem Etikett „Vision“ daherkommt, ist neurotischer Spinnkram.
Alles, wovon ich bis zu meinem 42. Lebensjahr dachte, es sei visionär, war Tüdelkram, neurotische Vermeidungsstrategie, verkleidete Bequemlichkeit, Selbstbeweihräucherung.
Was aber nach 40 Jahren noch Einfluss auf sein Umfeld nimmt, das hat Kraft. Und das DUNE-Projekt von Alejandro Jodorowsky war eines der kraftvollsten Filmprojekte, die je angepackt wurden.
Und was hat das alles mit Controlling zu tun?
Die herausragendsten Neuerungen wurden bisher nie von Corporate-Strukturen geschaffen. Um eine einzigartige Vision zu transportieren, braucht es ein inspiriertes Individuum.
Haben wir andererseits nur inspirierte Individuen um uns herum ohne Struktur, so ist das Ergebnis ein erbärmliches, spinnertes Chaos.
Die Corporate-Struktur stellt verlässliche, bewährte Prozesse zur Verfügung, in denen den Neuerungen die Ecken und Kanten abgeschliffen werden und in denen die Neuerungen für die Massen konsumierbar gemacht werden.
Die Vermessung der ideellen Welt
Echte Visionen, wahre Fortschritte sind wichtig für uns. Sie sind allerdings schwer zu messen und schwer abzuschätzen.
Die belanglosesten Randnotizen werden zu bahnbrechenden Erfindungen (z.B., einer Legende nach, der Klett-Verschluss), jahrelange aufwendigste Forschungs-Großprojekte werden nach zig ausgegebenen Millionen verschrottet.
Wir wissen vorher nicht, wie lange es dauert. Wir wissen vorher nicht, was dabei herauskommt, und kein KPI und kein Predictive Analytics kann es uns sagen. Auch wenn manche Leute Gegenteiliges behaupten. Ich wage die hellseherische Vermutung, dass die meisten dieser Leute Projekte im Bereich KPI und Predictive Analytics verkaufen.
Einzel-Genie Charles Goodyear arbeitete viele Jahre lang daran, elastische Produkte herzustellen. Er stieß immerhin auf das Konzept des vulkanisierten Kautschuk. Zu seinen Lebzeiten erreichte er damit allerdings nur, sich selbst mit den giftigen Dämpfen aus seinem Produktionslabor schließlich umzubringen.
Wie lange wäre das Entwicklungsprojekt in den meisten modernen Unternehmensstrukturen geduldet worden?
Kein Profit auf diesem Kostenträger: Weg damit!
Erst lange nach dem Tod von Goodyear wurde seine Entwicklungsarbeit wieder aufgenommen und von den Seiberling-Brüdern in Ohio für die Produktion moderner Gummiprodukte genutzt.
Schon mal den Namen „GOODYEAR“ irgendwo gelesen? Könnte man das als wirtschaftlichen Erfolg sehen und als technische Neuerung? Ich behaupte, ja.
Hätte eine Corporation alleine dies erreicht, ohne geniale Einzel-Tüftler? Wohl nicht.
Hätte man das Potenzial von Goodyears Entwicklungen irgendwie messen können? Wahrscheinlich nicht.
Viagra war ursprünglich als Herz-Medikament gedacht. Die tatsächliche Wirkung war dann eine willkommene Überraschung.
Controlling als Hilfe, nicht als Führung
Controlling kann sollte vor allem dafür sorgen, dass korrekt über den Ist-Zustand des Unternehmens berichtet wird.
Controlling sollte dazu dienen, den Unternehmer zu warnen, dass er nicht zu viel aus dem Unternehmen entnimmt und pleite geht.
Zumindest das traditionelle Controlling, das Werte der Vergangenheit berichtet und mit mehr oder weniger brauchbaren Schätzungen für die Zukunft arbeitet, sollte nicht glauben, es könne valide Vorhersagen für komplexe Systeme machen.
Auch die schönste Vision muss materiell ernährt werden. Auch der bescheidenste Visionär braucht zumindest Trinkwasser und gelegentlich was zum Schreiben oder Malen. Und wenn das Geld zu ende geht, sollte er informiert werden.
Wenn das Projekt selbst auf absehbare Zeit keinen Geldgewinn bringt, dann wird es halt subventioniert – von anderen Produkten, von Investoren, oder aus anderen Quellen.
Besonders in der Pharma-Industrie werden Entwicklungsprojekte oft über Jahre hinweg von den Produkten auf dem Markt subventioniert.
Die nützliche Info aus dem Controlling könnte sein, ob das Projekt Gewinn abwirft und somit die Mitarbeiter bezahlt oder nicht. Diese Info sagt aber nicht und impliziert auch nicht, ob das Projekt einen „Wert“ hat – nur einen gegenwärtigen Geldwert.
Auch Jodorowsky hätte vielleicht Unterstützung brauchen können von jemandem, der ihn finanziell auf dem Boden hält, ohne aber die Integrität seiner visionären Höhenflüge anzutasten.
Mathematische Trugschlüsse
Ein Witz aus dem Projektmanagement sagt, ein Projektmanager ist jemand, der glaubt, dass 9 Frauen gemeinsam in einem Monat ein Kind austragen können. Arbeitsteilung halt.
Corporate-Denken führt zu schnell zu dem Trugschluss, man könne Erfolge endlos erweitern durch das Anwenden von Formeln und vordefinierten Prozessen. Dem ist aber nicht so.
Ich bin selbst mal in einem Projekt dem Irrtum aufgesessen, wenn ein Unternehmen mehr Verkäufer einstellt, dann verkauft es mehr, und zwar ohne Betrachtung des Markt-Sättigungsgrades. Ganz schön peinlich.
Controlling ist wichtig. Wer aber den Controllern die FÜHRUNG überlässt, insbesondere mit rein formelgetriebenen Ansätzen und der Vorstellung, numerische Gewinne seien der einzig anzustrebende „Erfolg“, der kann für sein Anlagevermögen schon mal den Sperrmüll anrufen. In jedem Fall wird er nichts Herausragendes, nichts Besonderes schaffen.
Die erfolgreiche Verheiratung von Einzel-Genie mit der Corporate Structure
Wenn wir in der Welt der Filme bleiben: In den 1970ern erlebte Hollywood eine Revolution. Die Grandseigneurs der Filmindustrie dankten nach und nach ab, junge Filmemacher rückten nach und scherten sich wenig um Konventionen.
So schuf Francis Ford Coppola seine Meisterwerke. George Lucas schuf STAR WARS, ein nach meiner Meinung etwas dummer Film, aber romantisch, ästhetisch und im Rahmen des Visuellen wahrhaft bahnbrechend. Mit 10 fand ich das ultra-cool.
In den 1980ern übernahmen nach und nach wieder Corporate-Strukturen die Filmindustrie. Es wurde versucht, mit Formeln und Schablonen Hits zu produzieren, was meistens im Mittelmäßigen endete. Daran maßgeblich beteiligt, wie Frank Zappa öfter kommentierte, war auch die Wirkung eines weißen kristallinen Pulvers, das durch die Nase eingesogen wurde, was das Urteilsvermögen des Betrachters verändert.
Ausgezeichnet dargestellt wird so ein Prozess in dem kleinen Meisterwerk THE PLAYER von Robert Altman. Das Studio versucht, nach Schema F Blockbuster zu produzieren. Ein mittelbegabter Drehbuchautor mit einer halben Idee für eine Eröffnungssequenz wird angeheuert. Seine Idee einer tragischen Handlung wird schließlich umgebaut zu exquisitem, unfreiwillig komischem Dumpfsinn.
Bis in die 1990er wurde hauptsächlich Blech produziert. Ich erinnere mich daran, wie ich Woche um Woche das Kino-Programm studierte und fast nichts sehen wollte. Ich tröstete mich über die Videothek mit Fassbinder, Schlöndorff und kleinen versteckten Juwelen, die ich aus den Unmengen von Dreck herauskratzte.
Plötzlich Produktiv
Dann trat ein Wandel ein.
Seit etwa dem Jahr 2000 finde ich, werden viele sehr gute Filme produziert. Ich finde immer wieder etwas, das mich interessiert. Ja, es wird auch Dumpfbackiges gefilmt. Und viel Anspruchsvolles, Intelligentes, Anregendes.
In Hollywood funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Genie und Corporation ca. seit dem Jahr 2000 recht gut.
Die Einzel-Genies haben gelernt, sich der Corporate-Struktur anzupassen und mit Vorgaben zu leben. Die Filmstudios haben gelernt, mit den Einzel-Genies umzugehen. Aus dieser Zusammenarbeit und dem gegenseitigen Respekt entstehen viele gute Werke. Und Einiges, was nicht so toll ist.
Und natürlich bleibt die Filmindustrie ein enges Becken von Haien und Piranhas, die sich gegenseitig anlächeln und gegenseitig zerfetzen, die aber auch zusammenarbeiten, wenn das geboten scheint.
FAZIT
Die Menschheit braucht beides: Den einzelnen kapriziösen, flüchtigen Visionär und die dauerhafte, verlässliche Corporate-Struktur.
Erneuern und bewahren. Bewahren und erneuern.
Zwischen diesen beiden wachsen und konsolidieren wir.
Gemeinsam schaffen wir das Außergewöhnliche
NACHTRAG AM 22.05.2022
Nach ein paar weiteren Recherchen zum Thema habe ich weitere interessante Anekdoten zur Produktion von DUNE entdeckt.
Ein Zuschauer der Dokumentation meinte “Ich bin wahrscheinlich nicht der Einzige, der froh ist, dass diese verrückte Scheiße nie gefilmt wurde.”
Tatsächlich war einiges an dem Projekt sehr verrückt. Ein paar äußerst interessante Informationen hat der YouTuber “Velodus” zusammengetragen.
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